Die
Bildkörper von Annekathrin Norrmann
I.
Was Bildraum (oder in der Moderne eher Bildräumlichkeit) denn sei, ist
zu einem gewichtigen Problem geworden. Wie einfach schien es doch in
vormodernen und selbst noch frühmodernen Zeiten zu sein, in denen der
Bildraum in einer eindeutigen Repräsentationsbeziehung zum bekannten,
dreidimensionalen und von Körpern besiedelten Realraum stand, in denen
der Bildraum noch problemlos nach dem Modell des äußeren objektalen
Raumes verstanden werden konnte. Zwar war offensichtlich, dass dieser
Raum, ein Abbildungsraum, sich zumindest dadurch von dem Raum, der den
Betrachter umgibt, unterschied, dass er rein optisch verfasst und zur
Bewegungslosigkeit erstarrt oder stillgestellt war; dass er vom
umgebenden Raum, mit welchem der Betrachter durch verschiedene Sinne
und somit durch seinen Körper oder seine Körperlichkeit verbunden ist,
durch ein >Fenster<, durch einen Spiegel oder eine andere
>transparente Trennwand< abgetrennt und dadurch auf einen
bewegungslosen, festliegenden, rein optischen Zusammenhang, eine
Konstellation von abgebildeten und im Bild nur optisch existierenden
Gegenständen reduziert zu sein schien. Auf diese Weise war die Frage
nach der Verfassung der pikturalen Bildräumlichkeit immer schon dem
Modell der Abbildung, der gegenständlichen Repräsentation untergeordnet
und dadurch in ihrem Status klar definiert. Das Bild gab auf eine
spezifische Weise, die mit anderen Zeichensystemen verwandt ist und
zugleich von ihnen deutlich unterschieden, die wirkliche Welt oder neue
Konstellationen von Dingen der wirklichen Welt zu sehen.
Wie
sehr jedoch das Modell der Repräsentation, auch wenn es bis zum Beginn
der radikalen Moderne nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde, eine
künstliche, gewaltsame Homogenisierung des Raumes erzwang, wurde in der
Landschaftsmalerei, besonders in der Romantik, deutlich. Sobald die
gegenstandslose Ferne mit in den Bildraum hineingenommen wurde (der
Horizont, der Himmel, das Meer), zeigte sich, dass die wahrgenommene
Ferne im Bildraum und noch mehr die dem Bildraum eigene Unendlichkeit
(Unendlichkeit ist in diesem Zusammenhang die romantische Metapher für
die spezifische Unfassbarkeit und Unberührbarkeit der Ferne) sich nicht
einfach mit Hilfe der perspektivischen Konstruktion des Raumes
ergreifen und begreifen ließ. Denn diese Konstruktion versteht und
konstruiert die Tiefe, die dritte Dimension, nach dem Modell der beiden
anderen Dimensionen, die im Blickfeld liegen und eine frontale Ansicht
liefern. Die Tiefe wird dann von der Messbarkeit und Fassbarkeit der
zweidimensionalen Ansicht abgeleitet und als Erstreckung in die zwar
nicht wirklich sichtbare, aber erschließbare dritte Dimension
behandelt. Es zeigte sich, dass es sehr schwierig ist, die drei Typen
oder eher Aspekte von gegenständlichem Raum, die in der neuzeitlichen
Malerei entwickelt worden waren, miteinander zu verschmelzen: der
Umraum der Körper; ein Nahraum, und der Raum der leeren Ferne, der als
Luftperspektive (als ein fast monochromes Blau-Werden etwa in der
Donauschule) formalisiert wurde, konnten nur durch eine starre
Konstruktion, nämlich die streng lineare perspektivische Konstruktion,
vereinheitlicht und zu einem Gesamtraum synthetisiert werden. Die
gestaffelte Gliederung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund in der
Landschaftsmalerei der Romantiker war deswegen wichtig für die Gemälde;
sie ermöglichte die perspektivische Verklammerung der verschiedenen
Erscheinungsweisen des Raums und der diesen entsprechenden Blickweisen.
Den Bildraum als Abbildungsraum zu verstehen, wird schon schwierig,
sobald er die objektlose Ferne abbildet - oder eher suggeriert; wenn
der >leere Raum< abgebildet wird, wenn der Bildraum das
Analogon (dieses Analogon ist keine einfache Repräsentation mehr) zu
einem atmosphärischen Raum wird (so besonders bei C. D. Friedrich und
William Turner). Seitdem in der abstrakten Malerei der Bildraum aber
nicht mehr als Repräsentation von Realraum verstanden werden kann,
seitdem nicht mehr vorweg festgelegt ist, was (bzw. was für einen Typ
von Wahrnehmungen) er zu sehen gibt, ist der Bildraum ein Mysterium.
Dieses Mysterium wurde in der monochromen Farbmalerei und der
Farbfeldmalerei der Moderne, insbesondere des Abstract Expressionism
(hier am ausgeprägtesten die Malerei von Mark Rothko), noch dadurch
verdeckt, dass an die Stelle einer Repräsentation der Welt im Gemälde
die Repräsentation des Subjekts und seiner Empfindungen, Gefühle,
Regungen und Impulse trat. Zwar war das Modell der Expressivität, der
Äußerung der Subjektivität des Künstlersubjekts im Bildraum, noch
unklarer und problematischer als das Modell der Repräsentation der
sichtbaren Welt, doch blieb dieses idealistische Modell einer genuinen
Bedeutungshaftigkeit des Gemäldes und seines Bildraums, welche sich aus
der Produktivität, Spontaneität und Authentizität des schöpferischen
Künstlers ableitet, durch die Moderne hindurch verbindlich.
Mit dem Verschwinden des Modells eines expressiven,
subjektiv-semantischen Gehalts des Bildraums in den sechziger Jahren
wurde die Frage jedoch unabweisbar und brennend; was ist pikturale
Bildräumlichkeit? Was gibt das Gemälde oder spezifischer; der Bildraum
zu sehen? Mit welchem hermeneutischen Modell, mit welcher
Wahrnehmungsordnung kann man sich ihm nähern? Wenn der
>leere< Bildraum (über die Leere des Bildraums wird noch
zu sprechen sein) weder den Himmel oder eine vergleichbare unberührbare
Ferne in der Welt noch die Tönung und Färbung einer schöpferischen
Subjektivität zu sehen gibt - was gibt er dann zu sehen?
Die
Wahrnehmung einer >leeren< oder körperlosen
Bildräumlichkeit ist seit der Romantik offensichtlich (was ist hier
offen sichtbar?) in drei völlig unterschiedlichen, historisch
aufeinanderfolgenden Deutungs- und Bedeutungssystemen der Kunst
aufgetreten; in der frühesten Moderne, in der abstrakten Moderne, und
in der späten Moderne bzw. Postmoderne. Dabei ist die Frage, in wie
weit es sich um immer dieselbe Wahrnehmung im Gemälde bzw. um immer
dieselbe Bildräumlichkeit handelt, eine sehr schwierige Frage (was
heißt denn schon; >dieselbe Wahrnehmung<; und dennoch
sind Verwandtschaften oder Analogien unabweisbar). In der Romantik
wurde >leere< Bildräumlichkeit von der Erscheinung der
Ferne in der Welt aus verstanden, von der qualitativ-farblichen Tönung
und Abstufung der Atmosphäre aus, die, wörtlich verstanden, das aus der
Entfernung wahrgenommene Zusammenspiel von Luft, Wasser und Licht ist,
als eine qualitative visuelle Differenzierung der unfassbaren Ferne;
das Spiel der Wolken, des Nebels, des Regens, des Dunsts, des Lichts
der Sonne oder des Mondes (>Colour Beginnings< von
William Turnen C. D. Friedrichs Sonnenuntergänge). Es ist kein Zufall,
dass das differenzierte, qualitative, aber materielle Zusammenspiel von
Luft, Wasser, Feuchtigkeit. Temperatur und Sonnen- oder Mondlicht, die
Atmosphäre, seit der Romantik zur einer allgemeinen Metapher für
qualitative Differenzierungen der Wahrnehmung und der Selbstwahrnehmung
des Subjekts wurde, zu einer Metapher für die >getönte<
und differenzierte Leere der Subjektivität (Die Subjektivität ist ein
atmosphärischen leerer Raum).
Die Immaterialität des
farbigen, aber leeren atmosphärischen Raums veränderte in der Moderne
ihren Status grundlegend: wo sie vorher noch metaphorisch verstanden
wurde, als wörtliche Atmosphäre, als Farbwirkung der Luftschichten und
ihrer Beleuchtung, wurde sie jetzt zur Immaterialität des Geistigen
oder genauer: der Subjektivität. Die >Atmosphäre< des
leeren Farbraums im Gemälde lehnte sich nicht mehr an eine
repräsentierende Wahrnehmung an, sondern sie bildete ein psychisches
Analogon, eine komplexe (romantische) Artikulation der Subjektivität
als Stimmung, Empfindung, Gefühl etc. (etwa in den Gemälden von Mark
Rothko oder Barnett Newman). Wenn, wie für Annekathrin Norrmann, diese
idealistische Lesart oder Deutung des Farbraums der Malerei
zusammengebrochen ist, zeigt sich eine Wahrnehmungsaporie, welche das
problematische Phänomen des pikturalen Bildraums unverhüllt und
ungedeutet der Wahrnehmung eröffnet. Denn obwohl dieser pikturale
Bildraum, dieser >leere< Farbraum, keine Bedeutungen mehr
artikuliert und kein Analogon der Subjektivität eines Schöpfers mehr
bildet, und deswegen nicht mehr innerhalb einer kodierten Sprache der
Malerei gedeutet werden kann, offenbaren sich dennoch spezifische
komplexe Wahrnehmungsmöglichkeiten (pikturale und in einem präzisen
Sinne ästhetische Wahrnehmungen) der Bildräumlichkeit, welche eine
unbestreitbare Wahrnehmungsrealität ganz eigener Wirklichkeit (sie
besteht aus Wirkungen) aufweist.
Eine pikturale
Bildräumlichkeit, wenn ihre >Leere<, in (nahezu)
monochromer Malerei oder in Farbfeldmalerei, nicht durch irgendwelche
(symbolische, ikonische, indexikalische) Zeichen getrübt oder
verunklart wird, entzieht sich jeder Erfassung vermittels des
neuzeitlichen Modells des messbaren, homogenen, dreidimensionalen
Raums. Sie ist von vornherein nicht messbar - denn sie existiert nur
visuell, erlaubt keinen (messenden, erfassenden) körperlichen Zugriff;
sie ist von vornherein nicht messbar - denn sie existiert nur
qualitativ, in (vor allem) farblichen Qualitäten, die sich nicht
quantifizieren lassen; sie ist von vornherein nicht messbar - denn ihr
Raum kennt keine Berührung, auch keine Berührung mit dem Raum der
Körper in dem wir Betrachter uns befinden (sie ist unendlich fern); sie
ist von vornherein nicht messbar - denn sie entzieht sich jeder
Zuordnung von Dimensionen: schon ihre Oberfläche ist keine Oberfläche
(Oberfläche ist die zweidimensionale Ansichtsseite eines
dreidimensionalen Körpers), sondern eine komplexe, qualitative
pikturale Fläche, und ihre Tiefe ist keine dritte Dimension, sondern
eine qualitative Tiefe der Dichte und Vielschichtigkeit, sodass
Bildfläche und Bildtiefe nicht sinnvoll unterschieden werden können
(die Bildfläche ist unmessbar tief und die Tiefe des Bildraums ist
gleichzeitig wirkungsvolle Oberfläche); sie ist von vornherein nicht
messbar - denn in ihr ist die Unterscheidung von vollem Körper und
leerem Raum nicht mehr möglich, da sie ein qualitativ-sensuell, aber
nicht materiell erfüllter Raum ist, entfernt vergleichbar nur der
tiefen Dichte der Atmosphäre.
Pikturale Bildräumlichkeit wird
anders wahrgenommen und muss in anderen Kategorien gedacht werden als
die Konstruktion der Tiefe nach dem Modell der sichtbaren zwei
Dimensionen, der Oberfläche von Körpern, im homogenen neuzeitlichen
Raum: phänomenal am besten geeignet sind qualitative Kategorien oder
Kategorien der Intensität: Kategorien der Dichte und der sich
verdichtenden und dunkelnden Tiefe, der Schichtung und
Vielschichtigkeit, der Transluzenz und Milchigkeit - also phänomenale
Beschreibungen, die ganz generell einerseits der Haut, andererseits der
Atmosphäre zukommen. Die Ausdehnung des pikturalen Raums ist reine
visuelle Qualität, ist Farbe und Licht; dieser Raum ist also quasi
dimensionslos, weil er sich nicht in Dimensionen verorten lässt, weil
er sich jedem Zugriff (der Hand, des Maßes, des Begriffs) entzieht,
indem er unendlich zurückweicht - wobei schon für die Romantiker
>das Unendliche< auch eine Metapher für die Unfassbarkeit
und Ungreifbarkeit solcher Wahrnehmung war, der pikturalen (oder in
einem präzisen Sinne, ästhetischen), rein qualitativen Wahrnehmung.
II.
Die Befragung und Untersuchung des Bildraumes
hat in den malerischen Arbeiten von Annekathrin Norrmann eine ganz
eigene Dimension gewonnen (und die Metapher >Dimension<
verweist zumindest auf Räumlichkeit überhaupt). Denn sie erzeugt
Bildräume durch Bildkörper, die wörtlich Hohlräume oder Hohlkörper sind
und zugleich immaterielle, farbige Bildräume. Ihre pikturalen
Bildkörper bestehen aus zwei Teilen, die zwar nicht materiell
miteinander verbunden sind, aber wesentlich zusammengehören:
bearbeitete, farbig >verschleierte< Acrylkästen über
weitgehend monochromen Leinwänden. Die zuerst transparenten Kästen
werden ganz handwerklich abgeschliffen, ohne Intention oder Ausdruck,
ohne der dadurch rauh gewordenen Oberfläche irgendwelche Qualitäten der
malerischen >Hand< zu verleihen. Es geht dabei nur um
einen pragmatischen Zweck: die Oberfläche rauh und dadurch optisch
milchig werden zu lassen, ihre Transparenz auf eine starke Transluzenz
zu reduzieren. Diese Kästen werden dann auf allen Seiten weitgehend
gleichmäßig mit einer Farbe, manchmal auch mehreren eng verwandten
Farben bearbeitet: auf diese Weise werden sie zu einer Art
(quaderförmigem) Farbschleier im Raum. Diese Qualität als Farbschleier
ist zugleich ganz wörtlich und ganz metaphorisch zu verstehen: wie ein
Schleier aus Gewebe ist dieser Schleier zugleich eine Grenze und ein
optischer Durchgang, er ist durchscheinend, aber tönt oder färbt den
wahrgenommenen Raum, bei dem sich dann nicht mehr sagen lässt: ist
dieser Raum leer? Oder, da er von Farblicht erfüllt ist, ist er voll?
Die Kästen ergeben einen von Farblicht erfüllten, gerahmten Raum -
durchaus vergleichbar einem Bühnenraum. Besonders im Verhältnis zu
einem räumlich klar begrenzten, vom Betrachterraum ästhetisch
abgetrennten Raum, etwa einem Bühnenraum, ist >Schleier<
zugleich eine präzise Metapher und ein entscheidendes technisches
Mittel. In der Theaterarbeit von Robert Wilson etwa spielt die
Schichtung des Bühnenraumes durch Schleier und querlaufende farbige
Lichtbahnen bis hin zu einem Hintergrund, der selbst aus einem von
hinten farbig beleuchteten Schleier besteht, eine große Rolle: auf
diese Weise wird der Raum qualitativ geschichtet bzw. gestaffelt und
gewinnt eine Tiefe, die nichts mehr mit einer messbaren dritten
Dimension zu tun hat. Der Schleier erlaubt dem Licht, sich im Raum als
Wand oder Schicht zu verkörpern. Und ganz offensichtlich ist hier
>Schleier< mit >Haut< und
>Atmosphäre< visuell-phänomenal eng verwandt.
Die Gemälde, die hinter den Boxen hängen, zeigen oft eine monochrome
Fläche, und sonst vorwiegend waagerechte oder senkrechte
Unterteilungen, die nicht als Kompositionen verstanden werden können.
Die Unterteilung entsteht manchmal schon dadurch, dass das Gemälde
unter dem Acrylkasten nur die obere oder die untere Hälfte der Box mit
einem farbigen Hintergrund versieht; die andere Hälfte lässt einen
getönten und gebrochenen Durchblick auf die Wand zu, welche dann selbst
als Farbe präsent ist. Die Acrylfläche der Kästen wird häufig wie in
Hinterglasmalerei sowohl von vorn als auch von hinten mit Farbe
bearbeitet, so dass dann der Acrylkasten zwei getrennte Farbschichten
aufweist. Vereinzelt werden die Gemälde an der Wand auch durch Spiegel
ersetzt, was ein Grundprinzip dieser Arbeiten noch verstärkt: es geht
um das Umschlagen von optisch-materiellen Wirkungen der eingesetzten
Materialien in visuelle, pikturale Qualitäten. Deswegen sind die
optisch-materiellen Wirkungen der Rauheit und Glätte, der Transparenz
und Transluzenz, der Härte und Weichheit, der Riffelung und der
rhythmischen oder repetitiven Materialeinschreibungen wichtig - all
diese Materialqualitäten und technischen Verfahren werden nicht
schöpferisch, kompositorisch und intentional eingesetzt, sondern
weitgehend neutral und ohne eine intentionale Kontrolle der Wirkungen.
Die Staffelung der Farbschleier (Schleier der transluzenten Farbbox und
Schleier des Hintergrund) erzeugt einen Farbraum, der zugleich
immateriell im Sinne von leer oder körperlos (ein plastischer
Zwischenraum) und im Sinne von unfassbar, rein visuell (ein Bildraum
aus Farbe) ist. Und zugleich handelt es sich um einen aus dem
allgemeinen Raum ausgegrenzten, materiell begrenzten Hohlraum. Dieser
lichtdurchlässige (wobei das Licht durch mehrere Schleier fällt oder
durch sie reflektiert und so gefärbt wird) und durch farbiges Licht
erfüllte Raum bildet eine Art von wörtlichem Bildraum (so
widersprüchlich das auch ist): einen materiellen, körperlichen
Innenraum, der als rein visuellen pikturaler Raum wahrgenommen wird.
Dieser Bildraum wird dazuhin durch sich selbst gerahmt: die ebenfalls
farbig bemalten Schmalseiten der Bildkörper aus Acryl erzeugen optisch
eine Verdichtung und Vertiefung der Farbe, so dass die Bildfläche wie
durch einen dunklen Rahmen gefasst zu sein scheint. Wo die
Farbräumlichkeit eines monochromen Bildraums selbst schon einen anderen
Typ von Raum, einen qualitativen und unfassbaren Farbraum,
hervorbringt, der sich wie ein abgeschlossenen dichter Hohlraum, wie
ein Blickpuffer, wie ein Dickicht dem Blick entgegenstellt und zugleich
entzieht, sich nach vorn und nach hinten zugleich zu wölben scheint, da
bildet in den Bildkörpern von Annekathrin Norrmann der reale
Kasteninnenraum eine wörtliche >Materialisierung< des
Farbraums, eines pikturalen und rein visuellen qualitativen Raums. Auch
die Immaterialität des farbigen Lichts gewinnt so eine eigentümliche
Wörtlichkeit: das farbige Licht entströmt einem leerer Raum durch
farbige, aber transluzente Wände, so wie in farbigen Leuchtstoffröhren
das Licht aus einem transparenten oder transluzenten farbigen
Glaskörper strömt. In dem aufgerauhten, milchigen Acryl der Bildkörper
gewinnt die Farbe eine Art >Hof<, der zugleich
realenergetisch und immateriell ist.
Beim Umschlagen der
Materialqualitäten in visuelle, pikturale Qualitäten geht es nicht um
eine allgemeine Materialität und ihre optischen Effekte (was etwa bei
Moholy-Nagy Thema war) - Spiegelung, Reflexion, Transparenz,
Lichtbrechung, sondern um die Wirkungen der Materialität der Mittel der
Malerei selbst: der Träger (transparentes Acryl), der Bindemittel, des
Pigments, des Firnis, des Auftrags etc.; zu diesen Wirkungen des
Materials gehört auch die Abhängigkeit der Wahrnehmung von den
situativen Bedingungen der Beleuchtung. Abhängig von der Lichtstärke,
von der Farbe und dem Einfallswinkel des Lichts sowie vom Blickwinkel
des Betrachters verändern sich die Arbeiten: sie werden (wie Schleier)
durchsichtiger oder undurchsichtiger, sie werden transparenter oder
opaker, sie verändern ihre Lichtreflexion, die Farben werden dunkler
oder heller. Das nicht vorweg festlegbare und weitgehend
unkontrollierbare Zusammenspiel des Gemäldes im Hintergrund und der
farbig bemalten Acrylbox verändert sich stark innerhalb der wirklichen
Situation; in diesem Sinne sind die materiellen Bedingungen der
Situation und besonders des Lichts ein wesentlicher und konstitutiver
Bestandteil der pikturalen Bildkörper. Die unbeherrschbare Kontingenz
der Materialwirkungen und noch mehr ihres Zusammenspiels bringt eine
Pikturalität oder eine Bildräumlichkeit hervor; die in beträchtlichem
Grade intentionsloses Ereignis ist, ohne Autor; Schöpfer und Herrscher.
Hierin stehen die Arbeiten von Annekathrin Norrmann in der Tradition
der Radikalen Malerei. In dieser Tradition geht das Material der
Malerei selbst schon in pikturale Erscheinung über: es wird nicht
Erscheinung von etwas Bestimmten bzw. von etwas Anderem, sondern es ist
wesentliche Erscheinung. Es ist nichts anderes als Erscheinung.
Erscheinung bedeutet dann weder bloße Oberflächlichkeit noch den
Gegensatz zu einem verborgenen Wesen oder Grund, sondern bezeichnet die
spezifische rein visuelle Realität der Pikturalität, eine rein
visuelle, nicht körperliche Existenz für den Blick.
Johannes Meinhardt
Katalogtext zur Ausstellung in der Galerie Kampl 2003