Annekathrin
Norrmann
Die Arbeiten Annekathrin
Norrmanns lassen sich nicht einfach als Malerei verstehen, so sehr sie
auch gerade dies sind, nicht einmal als bloße Kombinationen malerischer
und räumlicher Elemente, die sie oft ebenfalls enthalten, sondern viel
eher als deren Synthese. Dies gilt schon für ihren gestalterischen
Ausgangspunkt, die Collage. Die Künstlerin entwickelt ihre Bildideen
auf der Basis der gestalterischen Probleme, die das Collage-Verfahren
beinhaltet. Kleinformatige Collagen aus heterogenen Materialien geben
die Anstöße für großformatige Arbeiten, ohne diese jedoch, im Sinne von
Modellen, direkt vorzubereiten. Das Collagieren von vorgefundenen und
auch teilweise überarbeiteten Fragmenten unterschiedlichster Herkunft
ist eben auch keine bloße Kombination eines Elementes mit einem oder
mehreren anderen, sondern es entsteht dabei etwas Neues, eben eine
Synthese. Ein Fotofragment oder ein Schriftfragment verliert seine
Funktion und damit den kommunikativen Charakter, wenn es im Verbund mit
farbigen Papieren zweckentfremdet, evtl. sogar farbig überarbeitet und
somit frei für eine Neuschöpfung und damit auch für eine unkodifizierte
Rezeptionsweise wird. Das farbliche und räumliche Potential solcher
Collagen kann die Künstlerin zu großformatigen Arbeiten anregen, in
denen sich jedoch die bildnerischen Probleme wieder anders stellen,
denn hier müssen die für die Collagen bereits vorgefundenen und
lediglich ausgewählten Fragmente erst einmal selbst erfunden und
materialisiert, d.h. ermalt werden.
So kann etwa, ausgehend
von einem bestimmten, einer Collage eigenen Effekt, z.B. einem
Farbklang oder einer räumlichen Verunklärung, ein großformatiges Bild
entstehen, das formal keine Ähnlichkeit mit irgendeiner der Collagen
aufweist, aber die dort vorformulierten Probleme zum Thema hat und
aufzuarbeiten versucht. Die Bilder sind, im Gegensatz zu den Collagen,
fast immer großformatig und somit in ganz anderer Weise präsent. Ein
kleines oder mittleres Format könnte noch zu sehr an eine scheinhafte
Darstellung von etwas Anderem erinnern, in der Weise wie schon Leon
Battista Alberti um die Mitte des 15. Jahrhunderts das Bild als eine
Art Fenster definierte, durch das hindurch man auf eine andersgeartete
Realität blicke; mit dem Nebeneffekt, daß man die Bildhaftigkeit der
Darstellung schließlich vergißt. Theoretisch kann dies auch bei nicht
gegenständlicher Malerei gelten, indem etwa ein kleines Farbfeld
sozusagen als verkleinerte Darstellung eines großen Farbfeldes
(miß-)verstanden werden kann. Ein großformatiges Bild läßt seine
Andersartigkeit nicht vergessen, sondern drängt sich dem Betrachter als
eine ihm als Individuum selbst wesensverwandte, eigene Realität
geradezu auf. Man sieht quasi nicht mehr die Darstellung von
bildnerischen Elementen, sondern nur noch diese selbst.
Die
Bilder sind nicht präkonzipiert, d.h. sie existieren bei Beginn der
Arbeit nicht schon vollständig im Kopf der Künstlerin. Allenfalls kann
sie eine mehr oder weniger vage Vorstellung von dem anzustrebenden Ziel
haben, doch muß der Weg dorthin erprobt werden, auch um das Risiko
nicht nur geringfügiger, sondern einschneidender Veränderungen. Im
Extremfall kann bisweilen sogar ein Teil der oft mehrteiligen Arbeiten
gegen ein anderes ausgetauscht und dieses mit dem ihm neuen Ganzen
harmonisiert werden, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt. So können
sich also bestimmte Kombinationen erst im Lauf der Zeit ergeben, denn
nicht jede Nachbarschaft funktioniert. Was man aus dem alltäglichen
Leben als eine simple Grunderfahrung kennt, gilt in gleicher Weise im
Bereich der Ästhetik, nur sind hier Ideallösungen möglich, die das
Leben selten bietet.
Das Zusammenfügen der einzelnen Teile
ist im Prinzip noch dem Collage-Verfahren ähnlich. Es ist die
eigentliche kompositionelle Leistung. Die mehrteiligen Bilder eröffnen
keine beliebigen Kombinationsmöglichkeiten, bestimmte Elemente sind
nicht gegen andere einfach austauschbar, Abstände nicht nach Belieben
zu verändern. Zwar erlaubt die grundsätzlich offene Bildstruktur eine
begrenzte Variabilität der Teile, doch ist diese allenfalls
raumabhängig. Ein niedriger Raum kann eine geringfügige Veränderung im
Verhältnis der Teile zueinander, wie ja auch zu ihm selbst,
rechtfertigen oder sogar erfordern, die ein höherer Raum nicht
ermöglichte. Auch wenn die Künstlerin eher offene als geschlossene
Bilder anstrebt, handelt es sich doch um Kompositionen, nicht um bloße
Kombinationen. Komposition besagt, daß die heterogenen Bildelemente in
ein von ihnen selbst konstituiertes Ordnungsgefüge gebracht sind, dem
der Charakter der Notwendigkeit anhaftet; es ist daher keinesfalls
beliebig veränderbar. Die Farbigkeit, als Grundfaktor dieser
Kompositionen, ist meist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, diffus und
gedämpft. Es herrschen sehr differenzierte Grau-, Braun- und Grüntöne
neben meist farbig gebrochenem Schwarz und Weiß vor. Auch sie
entstehen, wie das Ganze der Bildeinheit, langsam und in vielen
Arbeitsgängen.
Die Farben müssen quasi erst ein Verhältnis
zueinander finden, weshalb die Künstlerin sie oft modifiziert,
beginnend mit wenig präzisem Farbauftrag, der sich mit der Zeit
verdichtet. Es kommt dabei jedoch nicht zu materieller Effekthascherei,
etwa zur Imitation einer bestimmten Oberflächenrauheit mittels Farbe.
Diese bleibt eher dünn aufgetragen, auch wenn sie sich vielfach
überlagert. Dabei bleiben die Farbflächen oft wie weichgezeichnet,
ausgefranst und mit den anderen in einem räumlichen
Konkurrenzverhältnis. So kann es zu fast paradoxen Erscheinungen
kommen. Ähnlich wie in der Collage, wo etwa ein helles, kräftig
koloriertes, klar konturiertes Papier von einem diffusen Fragment
überlagert und damit die effektive Räumlichkeit in Frage gestellt
werden kann, finden sich auch in den Bildern räumliche Unklarheiten.
Die Farberscheinung verweist auf einen nicht-perspektivischen, nicht
meßbaren Raum, der eher als atmosphärischer Licht- und Farbraum
bezeichnet werden müßte, denn er ist, gemessen an unseren
herkömmlichen, naturwissenschaftlich geprägten Raumvorstellungen
irreal. Es treten zusätzliche Irritationen unserer vorgewußten
Raumsicherheit dadurch auf, daß etwa gerade ein diffuses, untaktiles,
entfernt scheinendes Farbfeld sich auf einem realräumlichen Bildteil
befindet, das in Kastenform in die Komposition integriert sein kann.
Ein realer, präzise meßbarer Quader kann diffusfarbig behandelt sein
und einen >Nebeleffekt< erzeugen, mit dem seine
Realräumlichkeit kollidiert und er als Körper in Frage gestellt wird.
Es entstehen also Irritationen im Verhältnis von (körperlichem) Real-
und (malerischem) Irrealraum.
Es sind dies keine völlig neuen
Erscheinungen in der abendländischen Kunstgeschichte. Die dominante
Vertikalisierung der Farbfelder bei Verwendung auch streifenförmiger
Elemente und die räumliche Unbestimmtheit im Zusammenklang der diffusen
Farbfelder läßt unwillkürlich an die amerikanische Farbfeldmalerei der
50er Jahre denken, besonders an Barnett Newman und Mark Rothko. Auch
der Konflikt zwischen Realräumlichkeit des Farbträgers und
atmosphärischer Räumlichkeit der Farbe wurde seit den 60er Jahren von
Gotthard Graubner zum alleinigen Prinzip seiner Malerei erhoben. Das
Prinzip der Collage schließlich ist spätestens seit dem Kubismus
bekannt und heute geradezu unverzichtbarer Bestandteil in jedem
Kunstunterricht bereits der Grundschule. Die Errungenschaften solcher
Künstler sind heute, wenn auch nicht als Vorlagemuster im postmodernen
Selbstbedienungsladen, sondern als Maßstäbe zur Beurteilung der eigenen
Möglichkeiten, bereits jedem Kunststudenten geläufig (oder sollten es
wenigstens sein). Daher läßt sich das in der Kunstgeschichte wie in der
Kunstkritik gern und fast nach Belieben gebrauchte Einfluß- bzw.
Abhängigkeitsmodell, mit dem sich mühelos positive wie negative
Bewertungskriterien (einerseits Aufnahme von Einflüssen bei Vorgabe
großer Namen und damit Fortsetzung von deren >Erbe<,
andererseits wenig eigenschöpferische Abhängigkeit der eigenen Position
von den Leistungen anderer) aufstellen lassen, heute nur noch sehr
eingeschränkt verwenden. Heutige Künstler können sich mühelos die
formalen Errungenschaften der gesamten Kunstgeschichte aneignen und,
ohne Übernahme von deren inhaltlichen Absichten, den eigenen Zielen
dienstbar machen. Der hohe ethische Anspruch der amerikanischen
Farbfeldmalerei galt zu deren Entstehungszeit in den 50er Jahren und
ist mittlerweile eine historische Position, die sich nicht mehr so
einfach besetzen läßt. Wohl lassen sich noch die gleichen oder ähnliche
Mittel anwenden, um damit zu ganz anderen, eben heute gültigen Zielen
zu kommen. Für Annekathrin Norrmanns Malerei bleibt etwa das
menschliche Maß verbindlich, über das die amerikanische Farbfeldmalerei
hinwegging. Entgegen deren Kommunikationsverweigerung (und damit
erzwungener Selbstbeziehung des Betrachters) interessiert sie die noch
mögliche Kommunikation des Betrachters mit dem Bild, in dem er ein ihm
gleichwertiges, allenfalls >vollkommeneres< weil
ästhetisches und ideales Gegenüber erkennen kann. Ihre Malerei versteht
sich nicht als einmal gefundenes Thema (oder Schema) mit Variationen,
sondern als ein immer wieder Prüfen der bildnerischen Elemente auf ihre
Verwendbarkeit in Hinsicht auf ein zu erstellendes Ganzes. Das
entspricht ganz dem Prinzip der Collage und ist zugleich ein Modell für
jede Art kreativer Tätigkeit: es gibt einen Formenvorrat, dessen
Bruchstücke je individuell aufeinander abgestimmt und zu einer
Komposition zusammengefügt werden müssen, wie sie eben nur ein Bild,
niemals die banale Alltäglichkeit realisieren kann.
Matthias Bleyl
Katalogtext zur Ausstellung in der "Neuen Galerie Dachau" 1993